Eine haarsträubende Verletzung

"Kehrt marsch!" lautet das Kommando, das die Hausfrau erleichtert gibt.
Wie soll man auch an einem solchen Morgen den Hundespaziergang genießen?!
Zwar regnet es nicht, aber das einsetzende Tauwetter hat die Waldwege in glitschige Morastbahnen verwandelt, von den Bäumen tropft einem das kalte Schmelzwasser in den Kragen, und die tiefhängenden, dunklen Wolken lassen das Tageslicht nur schwach durchsickern. Bei dieser ungemütlichen Witterung scheinen auch die meisten Hundebesitzer zu Hause geblieben zu sein. Zu Tequilas Leidwesen gibt es keine Begegnung und freudige Treffs mit den doch sonst so zahlreichen Vierbeinern.
Die Hausfrau ist froh als es endlich nach Hause geht.
Und Tequila? Als sich die Hausfrau ihren Kleinen ansehen will, bemerkt sie ihn weit hinten mitten auf dem Weg und jämmerlich humpelnd. Auf ihren erschrockenen Ruf hin setzt er sich und wartet mit hängendem Kopf auf ihre Ankunft.
Stumm hält er ihr die linke, schlammige Vorderpfote entgegen. Sie betrachtet die Unterseite und entdeckt, dass scheinbar die gesamte schwarze Lederhaut der mittleren Ballen abgerissen oder abgeschnitten ist. Fleischfarben schimmert es durch den Schmutz!
Das muss ja eine Riesenscherbe gewesen sein!
Ach der arme Kerl! Tröstend drückt die Hausfrau den leise schniefenden Hund an sich. Natürlich kann er so nicht weiterlaufen. Er weigert sich auch standhaft und legt sich protestierend mitten auf den Weg.
Also was bleibt übrig? Da die Hausfrau aus Papiertaschentüchern schlecht einen Verband basteln kann, muss sie den Verletzten tragen.
Nie ist ihr so klar geworden wie eben jetzt, dass sie froh sein kann, dass ein Chihuahua nur bis zu 2 Kg wiegen kann.
Trotzdem liegt er bald wie eine Zentnerlast auf den Armen der Hausfrau, die verzweifelt nach Hilfe Ausschau hält. Aber niemand ist zu sehen. Wie dankbar ist Tequila an diesem Unglücksmorgen, dass er auf Armen getragen wird.
Die Hausfrau dagegen ist das nicht! Die Arme sind ermüdet und der Rücken schmerzt. Eine Pause ist mal wieder dringend nötig. Schnaufend setzt sie den Kleinen ab, der sich sofort hinlegt. Es ist wirklich zum Verzweifeln! Wie soll sie bloß den weiten Weg nach Hause schaffen?
Tequila hat inzwischen intensiv die Pfote beleckt und als hätte der Himmel plötzlich ein Einsehen, erhebt sich der Hund, läuft an den nächsten Baum, ohne zu humpeln, und nach ausgiebigem Schnüffeln hebt er sein Bein.
Ein Wunder, denkt die Hausfrau und reibt sich die Augen. Aber da sieht sie des Rätsels Lösung: Vor ihr, dort, wo eben noch der "schwerverletzte" Chihuahua lag, liegt ein hautfarbenes, breitgetretenes Stück Kaugummi. An den feinen Härchen zwischen den Ballen hatte dieses unglückselige Stück geklebt und durch den Schmutz der übrigen Pfote war die Hausfrau, die ja auch nicht wagte, die große Wunde genau zu untersuchen, getäuscht worden.
Natürlich war das für den Hund unangenehm, aber die bittere Leidensmiene verbunden mit jammervollem Geschniefe war wirklich maßlos übertrieben und hatte die Hausfrau auch noch in ihrem Irrtum bestärkt.
Durch das intensive Lecken hatte sich dann die "furchtbare Verletzung" einfach abgelöst, was die spontane, wunderbare Heilung bewirkte. Auf der nächsten Bank musste sich die vordem so Verzweifelte erst einmal erholen.
Aber dann ist die Welt für die beiden wieder in Ordnung. Und was bedeutet schon ein ausgewachsener Muskelkater am nächsten Tag in den Armen der Hausfrau, wenn die Pfote von Tequila, dem großen Mimen, gesund ist?

Autorin: unbekannt aus dem Vereinsjournal 4/94

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